Was Versicherungsunternehmen wissen müssen

Prudent Person Principle im Schweizer Versicherungs- aufsichtsrecht

Prudent person principle in Swiss insurance supervisory law
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  • 15/12/25

Mit dem Inkrafttreten des revidierten Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) und der revidierten Aufsichtsverordnung (AVO) per 1. Januar 2024 hat die Schweiz den regulatorischen Rahmen für die Kapitalanlage von Versicherungsunternehmen grundlegend modernisiert. Kernstück dieser Reform ist die gesetzliche Verankerung des Grundsatzes der unternehmerischen Vorsicht (sog. «Prudent Person Principle»), das die Anlagetätigkeit der Versicherungsunternehmen stärker prinzipienbasiert ausrichtet, deren Eigenverantwortung erhöht und gleichzeitig den Versichertenschutz berücksichtigt. Die FINMA hat die wesentlichen Punkte zur Umsetzung des Prudent Person Principle in der FINMA-Aufsichtsmitteilung 06/2023 adressiert.

Ausgangslage vor der Revision

Bis Ende 2023 wurden die Anlagetätigkeit und die Sicherstellung der Ansprüche der Versicherten hauptsächlich über das FINMA-Rundschreiben 2016/5 «Anlagerichtlinien – Versicherer» geregelt, welches die Vorgaben aus dem VAG und der AVO konkretisierte. Das FINMA-Rundschreiben definierte allgemeine Grundsätze unter anderem zur Anlagestrategie und -reglement, zur Organisation und Kontrolle, zur Verwahrung der Vermögenswerte und zur Berichterstattung an die FINMA. Ferner wurde pro Anlageform unter anderem definiert, in welche Werte (nicht) investiert werden darf, wie die Bewertung vorzunehmen ist, welche Begrenzungen gelten und wie die Dokumentation auszugestalten ist. Mit der Revision per 1. Januar 2024 wurden die zentralen Prinzipien ins VAG und AVO überführt. Das FINMA-Rundschreiben 2016/5 wurde per 30. August 2024 aufgehoben.

Prudent Person Principle: Definition und Bedeutung

Das Prudent Person Principle verpflichtet Versicherungsunternehmen, ihre Vermögenswerte nach dem Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht zu bewirtschaften und wird neu unter dem Titel «Grundsätze der Vermögensanlage» (Art. 69a AVO) verankert. Die Anlagetätigkeit des Versicherungsunternehmens soll dabei im Einklang mit den nachfolgenden Grundsätzen stehen:

Aus den obigen Grundsätzen leiten sich die Kernelemente des Prudent Person Principle ab:

  • Investitionen ausschliesslich in Vermögenswerte und Instrumente, deren Risiken das Versicherungsunternehmen hinreichend beurteilen, bewerten, überwachen und steuern kann und welche es in seine Berichterstattung einbeziehen kann.
  • Anlage der Vermögenswerte, sodass Sicherheit, Qualität, Liquidität und Rentabilität des Portfolios als Ganzes sichergestellt werden kann. Die Belegenheit der Vermögenswerte muss die Verfügbarkeit gewährleisten.
  • Vermögenswerte zur Bedeckung versicherungstechnischer Rückstellungen sind so anzulegen, dass sie (i) der Art und Laufzeit der Versicherungsverpflichtungen des Unternehmens in angemessener Weise entsprechen, (ii) im besten Interesse der Versicherungsnehmer und Anspruchsberechtigten sind (iii) und die strategischen Ziele des Unternehmens berücksichtigen.
  • In Fällen von Interessenkonflikten muss sichergestellt sein, dass die Anlage im Interesse der Versicherungsnehmenden sowie der Anspruchsberechtigten erfolgt.
  • Nicht gehandelte Anlagen und Vermögenswerte, die nicht zum Handel an einem geregelten Finanzmarkt zugelassen sind, sind auf einem vorsichtigen Niveau zu halten.
  • Anlagen sind in einer angemessenen Weise zu mischen und zu streuen, dass eine übermässige Abhängigkeit von einer Anlageklasse, einem Vermögenswert, einem Emittenten, einer Unternehmensgruppe, einem Markt, einer geografischen Region sowie eine übermässige Risikokonzentration im Portfolio insgesamt vermieden wird.
  • Derivate sind nur zulässig, sofern diese zur Verringerung von Risiken oder zur effizienten Bewirtschaftung der Kapitalanlagen dienen. Unzulässig sind Geschäfte, bei denen entsprechende Wertpapierbestände nicht vorhanden sind (Leerverkäufe).

Die Anlagestrategie sowie die Einhaltung der Anlagegrundsätze müssen durch das Versicherungsunternehmen nachvollziehbar dokumentiert und überwacht werden. Die Anlagestrategie ist durch die Geschäftsleitung festzulegen und durch den Verwaltungsrat zu genehmigen.

Neben den allgemeinen Grundsätzen werden spezifische Vorgaben hinsichtlich des gebundenen Vermögens eingeführt (Art. 70 ff. AVO). Die AVO stellt hierzu besondere Anforderungen, weil Sicherheit, Liquidität und Verfügbarkeit der Vermögenswerte für die Sicherstellung von Versicherungsansprüchen entscheidend sind.

Gebundenes Vermögen: Individuelle Liste vs. Standardliste

Versicherungsunternehmen haben zwei Möglichkeiten, Vermögenswerte dem gebundenen Vermögen zuzuweisen: Entweder beantragen sie bei der FINMA eine Liste der Investitionen (Option 1), oder sie greifen auf den gesetzlich definierten Katalog zulässiger Anlagen zurück (Option 2).

Option 1: Individuelle Liste (Art. 79 Abs. 1 AVO)

Die FINMA kann auf Antrag eines Versicherungsunternehmens eine Liste von Vermögenswerten genehmigen, die für die Zuweisung zum gebundenen Vermögen geeignet sind. Pro Vermögenswert, den das Versicherungsunternehmen dem gebundenen Vermögen zuweisen möchte, hat es Informationen zu nachfolgenden Punkten im Antrag bereitzustellen:

 

  • Art und Ort der Verwahrung, Zulässigkeit der Unterverwahrung und Haftungsregelung im Zusammenhang mit der Unterverwahrung;
  • Handelbarkeit, Gegenparteirisiko und Besicherung des Vermögenswertes;
  • Bewertung des Vermögenswertes (inkl. Bewertungsmodell, falls kein Marktwert vorhanden ist);
  • Investitionsart (z.B. Direktinvestition oder Investition via kollektive Kapitalanlage);
  • Investitionslimite pro Vermögenswert;
  • Risikomanagement im Zusammenhang mit dem Vermögenswert.

 

Die FINMA verlangt einen hohen Detaillierungsgrad des Antrags: Zu allgemein oder zu breit formulierte Anträge, unter die auch ungeeignete Werte fallen könnten, werden zur Nachbesserung zurückgewiesen. Zudem muss das Versicherungsunternehmen seine Anlagestrategie sowie eine Dokumentation einreichen, die darlegt, wie die Anlagegrundsätze eingehalten und quantitative Begrenzungen festgelegt werden. Die genehmigte Liste ist unternehmensspezifisch und kann nicht auf andere Versicherungsunternehmen angewendet werden.

Der Antrag ist der FINMA über die Erhebungs- und Gesuchsplattform der FINMA (EHP) einzureichen.

Option 2: Standardliste (Art. 79 Abs. 2 AVO):

Verfügt das Versicherungsunternehmen über keine von der FINMA genehmigte Liste, so können dem gebundenen Vermögen die nachfolgenden abschliessenden Werte zugewiesen werden:

Wird das gebundene Vermögen nur in die oben genannten Vermögenswerte investiert, so ist kein Antrag an die FINMA einzureichen.

Übergangsfristen

Versicherungsunternehmen, die ab dem 1. Januar 2024 dem gebundenen Vermögen Werte zuweisen wollen, die nicht auf der Standardliste stehen, müssen bei der FINMA eine Liste geeigneter Werte genehmigen lassen.

Für Werte, die vor Inkrafttreten des revidierten VAG und der AVO zulässig dem gebundenen Vermögen zuweisbar waren, gilt Art. 216c Abs. 3 AVO: Diese Werte können für eine Übergangsfrist von drei Jahren (Ablauf der Übergangsfrist: 4. Januar 2027) weiterhin dem gebundenen Vermögen zugewiesen werden, sofern: 

  • die Anforderungen des Prudent Person Principle erfüllt sind;
  • das Versicherungsunternehmen bereits vor Inkrafttreten in vergleichbarem Umfang zulässig in Werte dieser Art investiert hatte; und
  • die Werte nach dem 1. Januar 2024 dem gebundenen Vermögen zugeführt wurden und das Versicherungsunternehmen einen Antrag für eine individuelle Liste gestellt hat, der diese Werte umfasste und der weder zurückgezogen noch abgelehnt worden ist.

Spätestens mit Ablauf der Übergangsfrist ist bei der FINMA für alle von der Übergangsregelung erfassten Werte ein Antrag auf Aufnahme in die individuelle Liste zu stellen. Daraus ergibt sich für Versicherungsunternehmen folgender Entscheidungsbaum:

Die FINMA kann die Übergangsfristen verlängern, wenn dies zum Schutz des Vertrauens in vor Inkrafttreten getroffene Investitionsentscheide erforderlich ist.

Erleichterungen für professionelle Versicherungsnehmende

Das revidierte VAG sieht für Geschäfte mit professionellen Versicherungsnehmenden Erleichterungen vor. Es wird davon ausgegangen, dass diese die Solvenz und das Gegenparteirisiko des Versicherungsunternehmens eigenständig beurteilen können und daher keinen gesetzlich vorgeschriebenen Schutz durch gebundenes Vermögen benötigen. Die Nutzung dieser Erleichterungen bedarf der vorgängigen Genehmigung durch die FINMA und ist mit Pflichten verbunden: Das Versicherungsunternehmen muss vor Vertragsabschluss den professionellen Status der Versicherungsnehmenden abklären und dokumentieren (Abklärungs- und Dokumentationspflicht) und sie über die Rechtsfolgen informieren, insbesondere darüber, dass ihre Ansprüche nicht durch ein gebundenes Vermögen sichergestellt sind (Informationspflicht).

Wir helfen Ihnen gerne weiter

Die Umsetzung der neuen Vorgaben erfordert ein umfassendes Massnahmenpaket. Als erfahrener Partner sowohl im Versicherungsaufsichtsrecht als auch in der rechtlichen Beratung von Vermögensverwaltungskunden begleiten wir Sie gerne bei der Umsetzung des Prudent Person Principle. Gerne unterstützen wir Sie bei: 

  • der Überprüfung der Anlagestrategie und -reglements;
  • der Einreichung einer individuellen Liste an die FINMA; 
  • der Überprüfung der zugrunde liegenden Dokumentation, des Risikomanagements oder der Corporate Governance Struktur;
  • der Sicherstellung einer funktionierenden Berichterstattung an die FINMA und die Prüfgesellschaft; und
  • weiteren rechtlichen und regulatorischen Themen.


Kontakt

Thomas Schwyter

Director, Legal, PwC Switzerland

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