Im Fokus: Energie

Elektrizität: Risikomanagement in stürmischen Zeiten 

Dr. Bernhard Bolliger
Director Commodity Risk Management, PwC Switzerland 

Stefan Wüest
Director Treasury & Trading Solutions, PwC Switzerland 

Der Energiemarkt erlebt stürmische Zeiten, mit Preisniveaus und Preisschwankungen, die historischen Charakter haben. Das stellt nicht nur Produzenten und Verbraucher vor grosse Herausforderungen, sondern auch das Risikomanagement und die Rechnungslegung der Energiekonzerne. Dabei folgt der Energiemarkt eigenen Gesetzen, und unsere Elektrizitätsinfrastruktur ist Teil eines äusserst dynamischen internationalen Netzwerks, dessen Stabilität jederzeit gewährleistet sein muss. Doch wie funktioniert der Strommarkt eigentlich?

Europäische wie auch Schweizer Energiekonzerne haben in den vergangenen Quartalen für viele Schlagzeilen und politische Diskussionen gesorgt. Der Energiemarkt erlebt stürmische Zeiten, mit Preisniveaus und Preisschwankungen, die historischen Charakter haben. Nach Jahren mit eher tiefen Strompreisen und sogar sinkender Nachfrage zu Beginn der Coronakrise sind die Preise an den europäischen Strom- und Energiemärkten Ende Sommer 2022 in die Höhe geschnellt.

Unternehmen, deren Bezugsverträge kürzlich ausgelaufen sind und die jetzt sehr kurzfristig Energie beschaffen müssen, leiden unter Kosten, die zum Teil um ein Vielfaches höher sind, als sie es sich gewohnt waren. Auf der anderen Seite sind Unternehmen, die den Preis ihres Strombedarfs anhand eines längerfristigen Vertrags noch fixiert haben, vorerst von den Turbulenzen verschont.

Wollen Energie- und Stromunternehmen solche mittelfristigen Preisgarantien für ihre Kunden ermöglichen, müssen sie sich ihrerseits an den internationalen Terminmärkten gegenüber steigenden Preisen absichern. Die Preisschwankungen (insbesondere die Preissteigerungen) an den Terminmärkten müssen die Energieunternehmen z.B. mittels Sicherheitsleistungen in Form von Liquidität ausgleichen. Die jüngsten kaum vorhersehbaren Marktverwerfungen belasten nun die Liquidität der Energieunternehmen teils massiv und bringen ihre Kreditwürdigkeit an Grenzen.

Stromversorgung sicherstellen

In Europa und in der Schweiz stützen die Regierungen Energieunternehmen mit dem erklärten Ziel, eine Insolvenzwelle in der Branche zu verhindern, um die Stromversorgung nicht zu gefährden. Konkret sind die vom Bundesrat und dem Schweizer Parlament bereitgestellten Mittel für die Stromversorgungsindustrie als temporäre Kreditgarantie zu betrachten. Nichtsdestotrotz lösen diese Massnahmen verständlicherweise Kontroversen rund um die Marktpositionierung und die Verantwortung des Risikomanagements der betroffenen Unternehmen aus. 

Auch auf die Industrie, die sich in den letzten Jahren auf relativ stabile Energiepreise verlassen konnte, kommen anspruchsvolle Zeiten zu. Aus der aktuellen Marktlage ist abzuleiten, dass die Beschaffungskosten für Elektrizität in den kommenden Jahren deutlich teurer werden könnten. Unternehmen mit grösserem Energiebedarf sollten ihre Beschaffungsstrategie überprüfen bzw. eine Beschaffungsstrategie definieren, falls eine solche noch fehlt. Zudem sollten Energiepreisszenarien stärker in die Kalkulation der Produktionsmargen einbezogen werden.

Komponenten und Eigenheiten des Strommarkts 

Doch wie funktioniert der Strommarkt eigentlich? Die Stromversorgung zählt zur kritischen Infrastruktur. Obschon die Schweiz im langjährigen Durchschnitt die Inlandnachfrage aus Eigenproduktion in etwa sichern kann, können die Segmente Stromproduktion, -speicherung und -übertragung nicht national betrachtet werden.

Unsere Elektrizitätsinfrastruktur ist Teil eines äusserst dynamischen internationalen Netzes. Unter anderem auch die Tatsache, dass produzierter Strom für den späteren Verbrauch nur beschränkt gespeichert werden kann, ist eine entscheidende Differenzierung gegenüber anderen Elektrizitätsinfrastruktur – und stellt die Schweiz z.B. durch ihre Speicherseen in eine Sonderstellung. 

Produktion 

Strom kann auf vielerlei Arten erzeugt werden. Hauptbestandteile im europäischen Strommix sind die Produktion aus Wasserkraft (fliessende Gewässer und Pumpspeicherwerke), Wind- und Sonnenenergie, Geothermie, Kernenergie, Kohle- oder Gasverbrennung; letztere zum Teil auch gekoppelt mit Wärmeproduktion. Die verschiedenen Produktionsanlagen weisen spezifische Merkmale in Bezug auf Primärenergie, technische Komplexität und Standort auf, was letztlich die individuellen Produktionskosten bestimmt. Die Stromproduktion in Europa ist in Bezug auf alle Erzeugungsarten sinnvoll diversifiziert, sowohl durch regelmässige Produktion aus Laufkraftwerken oder nuklearer Erzeugung als auch durch flexible Kraftwerke wie z.B. Gaskraftwerke. In den letzten Jahren wurde eine Veränderung weg von fossilen Brennstoffen als Primärenergie hin zu erneuerbaren Energien gefördert (Grafik 1).

Electricity production share in EU 27

Grafik 1: Stromproduktion in Europa (Anteil verschiedener Energiearten in Prozent)  (Quelle: Ember, Agora Energiewende )

Während die Industrie 2021 für 30 Prozent des gesamten Stromverbrauchs in der Schweiz verantwortlich war, belief sich der Anteil der Haushalte auf 35 Prozent und derjenige der Dienstleistungsunternehmen auf 26 Prozent. Der Verkehr verbraucht gut 8 Prozent des Schweizer Stroms. Die Energiestrategie 2050 des Bundes sieht vor, den Pro-Kopf-Energieverbrauch sowie den Stromverbrauch insgesamt deutlich zu senken, wobei die generelle Substitution fossiler Energieträger durch erneuerbare Energien einen nachfragesteigernden Effekt für Strom hat (z.B. Elektromobilität). In Europa wird bis 2050 eine massive Steigerung der Stromnachfrage erwartet (Grafik 2).

demand for electricity will more than double by 2050

Grafik 2: Die Stromnachfrage in Europa wird sich bis 2050 mehr als verdoppeln, wobei Windenergie die Hälfte des Bedarfs decken wird (Quelle: WindEurope)

Transport 

Die Produktion und der Konsum von Strom sind weder räumlich noch zeitlich synchronisiert. Die Stromnetzinfrastruktur verbindet die Orte der Erzeugung und des Verbrauchs. Der europäische Strommarkt kann ökonomisch als «gekoppelte Kupferplatten» betrachtet werden; die Strompreise sind oft national identisch, Preisdifferenzen zwischen den Ländern sind im Wesentlichen bestimmt durch die Kosten der Übertragungsnetze. Dieser Mechanismus ist die Grundlage für die Preisbildung an den Grosshandelsmarktplätzen. 

Aber entscheidend ist schliesslich die Lieferung: Elektrizität muss in der erforderlichen Menge am richtigen Ort und zum Zeitpunkt des Verbrauchs zur Verfügung stehen – immer. Die sekundengenaue Abstimmung von aktueller Erzeugung und aktuellem Verbrauch ist ein äusserst dynamischer Vorgang. Übertragungsnetzagenturen koordinieren diese Netzstabilität und können kurzfristig auf die Erzeugungskapazitäten von lokaler Stromproduktion Einfluss nehmen. Die Sicherstellung der Netzstabilität, die letztlich nicht durch ökonomische, sondern durch physikalische Eigenschaften bestimmt wird, ist eine wichtige Aufgabe der Stromkonzerne, die Zugriff auf flexible Produktion haben bzw. diese ermöglichen.  

Die steigende Netzkomplexität eröffnet der Industrie aber auch Chancen, wenn sie ihren Verbrauch dynamisch anpassen kann. Wenngleich diese Flexibilität in der Vergangenheit oft nicht ausgenutzt wurde, kann ein strukturierter Verbrauch in der heutigen Zeit hoher Energiekosten einen substanziellen Beitrag zur Reduktion der Produktionskosten leisten. 

Speicherung 

Öl- oder gasbasierte Energie wird typischerweise in Tanks für den künftigen Verbrauch gespeichert; anders bei Elektrizität. Die Speicherung von Elektrizität unterliegt physikalischen und technischen Beschränkungen. Einen substanziellen Beitrag leistet die hydrologische Speicherung. Die Alpenländer und die nordischen Länder gelten wegen ihrer geographischen Gegebenheiten, die den Bau von Wasserreservoirs mit den entsprechenden Pumpwerken und Generatoren ermöglichen, als dafür prädestiniert. Die Speicherkapazitäten sind diversifiziert, Kurzzeit- und Langzeitspeicher können die saisonalen Schwankungen in Erzeugung und Verbrauch ausgleichen.  

Handel 

Handelsmärkte sind ein unverzichtbarer Teil des Ökosystems. Diese Plattformen erlauben den Erzeugern und Verbrauchern eine transparente Preisstellung. Ermöglicht wird diese Preisstellung zusätzlich durch Marktteilnehmer, die primär das finanzielle Marktpreisrisiko absichern wie z.B. Investmentbanken oder Hedge Funds. Daher ist es auch für die rein physischen Marktteilnehmer, Produzenten wie Verbraucher, äusserst wichtig, die Dynamik des Marktes richtig einzuschätzen.

Erzeugungskosten vs. Marktpreis – hier und jetzt

Die Erzeugungskosten von Strom sind je nach Technologie unterschiedlich; Laufkraftwerke produzieren Strom zu eher niedrigen Kosten, Gaskraftwerke sind hingegen kostenintensiv. Nichtsdestotrotz ist es sinnvoll, dass unterschiedliche Technologien zur Erzeugung von Elektrizität bereitgestellt werden. Die verschiedenen Technologien bieten unterschiedliche Verfügbarkeiten an, was für die kurzfristige Stabilisierung des Übertragungsnetzes essenziell ist. 

Als Folge davon ist der Strommarkt so beschaffen, dass für jede Stunde ein Preisgebot für Erzeugung und Verbrauch in einer Spot-Auktion ermittelt wird. Dieser Preisfindungsprozess folgt einem etablierten Vorgehen: Anhand von «Merit-Order-Auktionen» wird ein einheitlicher Marktpreis definiert, unabhängig von den Erzeugungskosten (Grafik 3).  

Somit ist es ökonomisch – aber vor allem auch physikalisch – sinnvoll, in flexible und eher teure Kraftwerke zu investieren, um die Aufrechterhaltung der Netzstabilität zu gewährleisten. Auch der Wegfall von signifikanten Produktionsvolumen aus Laufwasser oder nuklearer Produktion erklärt, weshalb Gaskraftwerke zurzeit oft die preisbestimmende Produktionstechnik in der «Merit Order» sind. Entsprechend sind die hohen Gasnotierungen für den Anstieg der Strompreise mitverantwortlich.  

Erzeugungskosten vs. Marktpreis – der Terminmarkt sorgt für Kalkulierbarkeit 

Das Eingehen von Termingeschäften erlaubt Produzenten und Abnehmern, die Preise für den Kauf und Verkauf von Strom, welcher erst in Zukunft geliefert wird, schon jetzt zu fixieren. Weil Produktion und Verbrauch immer im Einklang stehen müssen, hat der Strommarkt auch eine strukturierte Terminpreiskurve. Diese korreliert mit der täglichen, wöchentlichen und saisonalen Nachfrage. Grundsätzlich ist diese Struktur gut vorhersehbar, birgt aber auch Marktunsicherheit. So wird z.B. das Angebot von Wind-, Solar- oder Wasserenergie vom Wetter beeinflusst. Dies kann zu Perioden erhöhter Volatilität oder sogar zu Preisspitzen führen. 

Erzeugungskosten vs. Marktpreis – der Terminmarkt sorgt für Kalkulierbarkeit

Grafik 3: Historische Preisentwicklung für den Referenzpreis Deutschland mit Jahreslieferung 2023 (Quelle: EEX) 

Im Rahmen eines verantwortungsvollen Risikomanagements setzen Energiekonzerne zur Stabilisierung der Strompreise bzw. zur Absicherung ihrer zukünftigen Erträge verschiedene Absicherungsinstrumente ein. Solche Hedging-Kontrakte ermöglichen die Steuerung von Preisrisiken und die Sicherung künftiger Gewinnspannen. Der Einsatz dieser Derivate bringt allerdings auch erhebliche Herausforderungen mit sich: Unrealisierte Verluste auf börsennotierten Absicherungstransaktionen müssen mit Sicherheiten (in der Regel in Form von Bareinlagen) unterlegt werden.

Ein einfaches Beispiel: Ein Stromproduzent mit einer einzelnen Anlage hat Produktionskosten von CHF 100 pro MW/h. An der Strombörse verkauft das Unternehmen die zukünftige Stromproduktion für CHF 200 pro MW/h und hat damit eine Bruttomarge von CHF 100 pro MW/h fixiert. Steigt der Marktpreis in der Folge auf CHF 600 pro MW/h, dann muss das Unternehmen den unrealisierten Verlust auf dem Absicherungsgeschäft von CHF 400 pro MW/h als Sicherheit (Collateral) hinterlegen. Obwohl das Unternehmen aus betriebswirtschaftlicher Sicht mit seiner Bruttomarge profitabel ist, führen die hohen Marktpreise zu einer temporär starken Belastung – bis hin zu einer Überlastung – der Liquiditätsreserve des Stromproduzenten. Das heisst, grosse Preisschwankungen erfordern ein starkes Liquiditäts- und Kapitalmanagement.  

Rechnungslegungsaspekte 

Aus Sicht der Rechnungslegung führen die Marktverwerfungen ebenfalls zu grossen Herausforderungen. Die stark steigenden Marktpreise führen dazu, dass sich der ökonomische Wert der Stromproduktionsanlagen erhöht. In der Rechnungslegung werden diese Anlagen aber nicht zum Marktwert bewertet, sondern zu den historischen Anschaffungskosten abzüglich der betriebswirtschaftlich notwendigen Abschreibungen. Andererseits müssen die Absicherungsgeschäfte an der Strombörse zum Marktwert bilanziert werden. Der Marktwert dieser Geschäfte ist bei steigenden Preisen (siehe obiges Beispiel) negativ und führt zu einem ausgewiesenen Verlust in der Jahresrechnung. Entsprechend hat der Stromproduzent zwar aus mittelfristiger Optik ein sehr profitables Unternehmen, kurzfristig muss er allerdings Verluste in seiner Jahresrechnung ausweisen. 

Dieser «Accounting Mismatch» kann allenfalls mittels Anwendung von Hedge Accounting (teilweise) eliminiert werden. Ob dies möglich ist, und in welchem Ausmass, hängt dabei massgeblich von der Struktur der Absicherungsgeschäfte und vom angewandten Rechnungslegungsstandard ab. Grundsätzlich ist die Anwendung von Hedge Accounting unter OR, Swiss GAAP FER und IFRS möglich. Bei IFRS führt Hedge Accounting zur Eliminierung der Volatilität in der Erfolgsrechnung. Der Effekt bleibt aber im Eigenkapital weiterhin sichtbar. Entsprechend ist dies für Unternehmen, die Eigenkapital-Covenants einhalten müssen, nur beschränkt hilfreich. Swiss GAAP FER und OR ermöglichen in bestimmten Fällen hingegeben eine vollständige Elimination der negativen Effekte in der Erfolgsrechnung und im Eigenkapital.   

Fazit und Ausblick

Die jüngsten Entwicklungen an den Strommärkten haben dazu geführt, dass einige Energiekonzerne ihre Absicherungsstrategien kurzfristig angepasst haben. Viele Akteure überlegen sich zudem, ob und wie die veränderten Marktbedingungen ihre langfristige Risikomanagementstrategie beeinflussen. 

Auch das Nachfrageverhalten der Industrie sowie ESG-bedingte Anpassungen an der Strombeschaffungsstrategie vieler Unternehmen dürften in naher Zukunft Herausforderungen für die Risikomanagementabteilungen der Stromkonzerne darstellen. 

Weiter sehen wir auch viele Stromunternehmen, die ihre Bilanzierungs- und Bewertungsgrundsätze überprüfen, um die Risikomanagementsicht stärker mit der Buchhaltungssicht zu harmonisieren. Dieses Risikomanagement muss auch in Zukunft eine wichtigere Rolle für Energiekonzerne einnehmen.  


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Bernhard Bolliger

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Stefan Wüest

Stefan Wüest

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