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Tania Putze
Managerin Gesundheitswesen
PwC Schweiz
Der Fachkräftemangel ist omnipräsent, gerade in der Pflege. So beschäftigt sich auch Swiss Nurse Leaders (SNL), der Dachverband der Pflegedirektionen und -kader in der Schweiz, intensiv mit dem Thema. Von SNL-Präsident Mario Desmedt, RN, Msc, DNP, wollten wir mehr über das Thema erfahren. Seine Erläuterungen und Ansichten haben wir nachfolgend zusammengefasst.
Die jüngste Finanzstudie der Schweizer Spitäler1 von PwC Schweiz prognostiziert, dass im Jahr 2030 rund 30'500 Pflegestellen nicht besetzt sein werden (vgl. Abbildung 1). Dieser dramatischen Prognose liegen diverse Ursachen zugrunde. Zugleich nehmen die Anforderungen an Qualität, Umfang und Sicherheit der Pflegedienstleistungen zu. Ein wesentlicher Treiber dafür ist die Zunahme von chronischen Krankheiten aufgrund der demografischen Alterung. Damit steigen die Anforderungen an die Qualität und die Sicherheit der Pflegedienstleistungen.
Abbildung 1: PwC-Prognose zum Mangel an Pflegefachpersonen in den Jahren 2030 und 2040
Die Pflegeinitiative2 ist nach Ansicht von Mario Desmedt ein wichtiger Schritt, um mehr Pflegefachpersonen auszubilden und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern – auch wenn der Weg steinig sei. Mario Desmedt führt an, dass die Pflege nach wie vor häufig als finanzielle Belastung wahrgenommen werde, obwohl bis heute echte Kostentransparenz bei der Kostenrechnung und der Datenqualität fehle. Die Vorgaben zur einheitlichen Ermittlung der Kosten und zur Erfassung der Leistungen in der Pflege sind laut Desmedt schweizweit sehr ungenau. Um mehr Effizienz, Transparenz und Vergleichbarkeit zu erreichen, sollten die Leistungen so definiert werden, dass sie die gewünschten Ambitionen oder Veränderungen (integrierte Versorgung, interprofessionelle Tätigkeiten, autonome Rolle der Pflegefachpersonen, Schnittstelle Gesundheit und Soziales usw.) aufwerten. Zudem sollte das Kennzahlensystem langfristig weiterentwickelt und Qualitätsindikatoren sollten eingebunden werden. So liesse sich eine Entscheidungsgrundlage für Tarifverhandlungen schaffen und die Wertschöpfung der Pflegefachpersonen könnte nachvollziehbar abgebildet werden. Um einen wirksamen und nachhaltigen Wandel einzuleiten, ist es nach Ansicht von Mario Desmedt höchste Zeit, eine Tarifierung zu lancieren, die den wesentlichen Beitrag der Pflegefachperson wertschätzt und diese gleichzeitig an den Tisch der Tarifverhandlungen holt.
Investitionen in die Arbeitsbedingungen schafften direkte und indirekte Vorteile. Laut Mario Desmedt sollte man nicht von «finanzieller Belastung», sondern von «Investition in die Zukunft» sprechen. Die Vorteile dürften gemäss Desmedt und zahlreichen Publikationen die Investitionen bei Weitem übersteigen. Doch nur mit einer langfristigen Sichtweise liesse sich eine solche Aufwärtsspirale in Gang setzen.
Mario Desmedt ist Doktor der Pflegewissenschaft (DNP), welchen er an der Duke University absolviert hat. Seit November 2020 ist er Präsident des Verbandes Swiss Nurse Leaders – der Dachverband der Pflegedirektionen und -kader in der Schweiz. Parallel dazu ist er als Pflegedirektor beim Hôpital ophtalmique Jules-Gonin tätig. Mario Desmedt setzt sich seit über 20 Jahren intensiv für den Pflegeberuf und die Pflegenden ein.
«Wir sollten nicht von ‹finanzieller Belastung›, sondern von ‹Investition in die Zukunft› sprechen.»
Die Anforderungen an die Gesundheitsversorgung sind gewachsen. Dies basiert auf den demografischen, epidemiologischen, versorgungsstrukturellen und ökonomischen Entwicklungen. Das verändert auch die Kompetenzanforderungen und die entsprechenden Aus- und Weiterbildungen. Die Aus- und Weiterbildungspolitik soll sich an den Realitäten und Herausforderungen vor Ort orientieren und die Komplexität der Pflege in der Praxis widerspiegeln. In Ländern wie Irland, Spanien, Portugal und anderen ist ein Hochschulstudium mit Bachelorabschluss inzwischen der einzige Zugang zum Beruf3. Die Swiss Nurse Leaders haben vor kurzem einen Scoping Review durchgeführt. Dieser zeigt – basierend auf wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Argumenten – eine starke Tendenz, das Bachelor-Niveau in der Pflege als Einstiegsniveau in den Beruf vorauszusetzen. Auch in Österreich wird die Pflegeausbildung bis 2024 auf Fachhochschulniveau angehoben und löst die bisherige Diplomausbildung ab4.
Mario Desmedt geht auf der Grundlage der verfügbaren Studien und seiner Erfahrung davon aus, dass die Akademisierung des Pflegeberufs eine Vielzahl von positiven Auswirkungen zur Folge habe: für Patient:innen, Pflegefachpersonen, Institutionen und die Gesellschaft insgesamt. Studien zeigen in diesem Zusammenhang weniger Komplikationen und unerwünschte Ereignisse (Patientenstürze, Medikationsfehler, nosokomiale Infektionen usw.), eine höhere Zufriedenheit von Patient:innen und Pflegefachpersonen, weniger Fluktuation oder Kündigungsabsichten sowie positive Auswirkungen auf die Aufenthaltsdauer von Patient:innen und die Reputation von Instituten. Nach Desmedt ist das Bildungsniveau entscheidend, um die aktuellen Herausforderungen eines Gesundheitssystems zu meistern.
Allerdings variieren die Qualifikations-, Kompetenz- und Tätigkeitsprofile je nach Land stark. In der Schweiz sind die Pflegeprofile auf unterschiedlichen Ausbildungsstufen angesiedelt. Laut einem OECD-Bericht5 stieg hier die Anzahl der nicht diplomierten Pflegenden im Vergleich zu den diplomierten Pflegenden von 2010 bis 2019 dreimal schneller. In dieser Entwicklung sieht Mario Desmedt sowohl Chancen als auch Risiken. Die Fachangestellten Gesundheit (FaGe) und die Pflegefachpersonen FH bilden laut Desmedt ein effektives, sich ergänzendes Duo. Es sei wichtig, die Rollen und Verantwortlichkeiten zu klären und die Organisation der Arbeit zu erleichtern. FaGe an sich sei ein wunderbarer Beruf. Es sollten jedoch bessere Berufsaussichten durch lebenslanges Lernen und/oder erleichterte Übergänge zu anderen Berufen (z. B. Bachelor in Pflege) geschaffen werden.
In unserer elften Publikation zur finanziellen Gesundheit von Schweizer Spitälern beschäftigen wir uns mit der aktuellen Personallage. Wir zeigen auf, was Schweizer Leistungserbringer unternehmen können, um die Fachkräftesituation zu entspannen und die Weichen für eine positive Zukunft zu stellen.
«Das Bildungsniveau ist entscheidend, um die aktuellen Herausforderungen unseres Gesundheitssystems zu meistern.»
Der Skill-Grade-Mix dient im Pflegemanagement dazu, die Ressourcen optimal einzusetzen. Spitäler und Kliniken setzen Fachpersonen mit verschiedenen Berufsausbildungen gezielt nach Kernkompetenzen ein und rekrutieren sie auch danach. Zu diesem Thema wird rege geforscht, etwa mit dem Programm NFP 74 «Gesundheitsversorgung» des Schweizerischen Nationalfonds6 oder den Interventionsstudien STRAIN der Berner Fachhochschule7. Diese Initiativen zeigen ein enormes Verbesserungspotenzial beim Skill-Grade-Mix auf. Mit einem optimalen Skill-Grade-Mix kann eine Gesundheitsorganisation die Qualität der Pflege sicherstellen. Allerdings ist meistens unklar, wie ein solcher konkret aussieht und ob es diesen tatsächlich gibt. Der Skill-Grade-Mix wird häufig vom Kontext, dem Pflegebedarf und der Typologie der Patient:innen bestimmt und ist folglich schwierig zu standardisieren. Zudem ist wichtig, den gesamten Behandlungspfad der Leistungsempfänger oder Patient:innen zu betrachten, nicht nur einen akuten Durchgang oder eine einzelne medizinische Handlung. Die Komplementarität und die Effizienz der verschiedenen Berufsgruppen während der gesamten Erfahrung oder Begleitung stellen den besten Skill-Grade-Mix aus Sicht der Patient:innen dar.
PwC empfiehlt den Spitälern daher, eine regelmässige Aus- und Bewertung des Skill-Grade-Mixes durchzuführen. Häufig erfordert das je nach Fachbereich und Spezialisierung individualisierte Anpassungen. Viele Spitäler könnten mit einem angepassten Skill-Grade-Mix den Personalbedarf pro Station systematisch und methodisch optimieren. Es ist ausserdem möglich, den Skill-Grade-Mix auf institutioneller Ebene zu beobachten: Welcher Anteil der Investitionen fliesst direkt in die klinischen Teams? Unterstützen das «Business-Partnerschaftsmodell» oder die Logistikdienste tatsächlich die Maximierung der direkten Pflegezeit? Viele Pflegekräfte verbringen die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit Tätigkeiten, die wenig mit der direkten Betreuung von Patient:innen zu tun haben. Das ist oft ineffizient und frustrierend. Mario Desmedt formuliert seinen Appell so: «Lassen Sie uns Produktivitätsgewinne erzielen und eine bessere berufliche Erfüllung erreichen, indem wir die Arbeitszeit in ihrer geliebten Haupttätigkeit maximieren: der Pflege.»
Als entscheidend für die Attraktivität der Pflegeberufe erachtet Mario Desmedt vor allem die Arbeitsbedingungen. Dazu zählt er angemessene Karrieremöglichkeiten, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, den Lohn, verlässliche Dienstpläne, Weiterbildungen und andere Aspekte. Desmedt stellt fest, dass bei den Arbeitgebenden ein Umdenken stattfinden muss. Nur mit der Erkenntnis, dass sich der Arbeitsmarkt verändern muss, und mit der Bereitschaft, diese Veränderung tatsächlich zu vollziehen, bleiben Arbeitgebende weiterhin attraktiv und gewinnen Fachpersonal. Oft brauche es nicht viele zusätzliche Ressourcen, um Massnahmen umzusetzen – aber jemand, der sich darum kümmere. Laut Desmedt sind Pflegefachpersonen nicht nur das Herz von Gesundheitsinstitutionen, sondern auch deren Rückgrat, da sie die Kontinuität der Versorgung und die Stabilität der Institutionen sichern.
Mario Desmedt erläutert, die Anforderungen von jungen Generationen an ihr Arbeitsleben hätten sich stark verändert. Temporäre Stellen seien unter jungen Pflegefachpersonen angesagt. So könnten diese Arbeitszeit, Urlaub und Work-Life-Balance selbst bestimmen und würden in ihrem Beruf dennoch mehr Lohn erhalten als Festangestellte. Dieses Phänomen beschert den Einrichtungen erhebliche direkte und indirekte Mehrkosten und zwingt sie, ihre Prioritäten klug zu setzen.
Mario Desmedt ist davon überzeugt, die Pflegefachpersonen hätten wirtschaftliche Prinzipien und gutes Management verinnerlicht. Führung und Management seien in der Pflege präsent. Daher sieht er es an der Zeit, mehr Fürsorge in das administrative Management zu integrieren. Berufliche Erfüllung und wirtschaftliche Effizienz würden sich nicht gegenseitig ausschliessen. Würden die Organisationen der Arbeit nach dem Pareto-Prinzip oberste Priorität einräumen, verbrächten Pflegefachpersonen mindestens 80 Prozent ihrer Arbeitszeit mit der direkten Pflege und 20 Prozent mit administrativen Arbeiten. Das erzeugt gemäss Desmedt schon einen erheblichen Mehrwert. Erfahrungen mit Shared Governance würden die Leistung der Institutionen bereichern. Die Pflegefachpersonen seien ausgezeichnete Botschafter:innen, um die Zusammenarbeit von Patient:innen und Angehörigen zu erleichtern und zu fördern. Sie seien wichtige Treiber in einem Wandel, in dem das Potenzial, die Fähigkeiten und das Wissen der Pflegefachpersonen besser genutzt werden sollten.
Mario Desmedt erachtet eine aufgeklärte Führung auf allen Ebenen ebenfalls als zentral, um Pflegende im Beruf zu halten. Gewisse Einrichtungen im Ausland würden ihre Pflege mit speziellen Konzepten (z. B. «Magnet Hospitals», Pathway to excellence®) beispielhaft stärken. Mario Desmedt ist der Ansicht, dass die Ausbildung von mehr Pflegefachpersonen ein Flickwerk bleibe, solange eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen keine strategische Investition für das Gewinnen und Halten guter Fachkräfte sei.
«Die Ausbildung von mehr Pflegefachpersonen bleibt ein Flickwerk, solange eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen keine strategische Investition für das Gewinnen und Halten guter Fachkräfte darstellt.»
Als abschliessenden Erfolgsfaktor nennt Mario Desmedt den Ansatz «Health in All Policies» (HiAP)8 der Weltgesundheitsorganisation WHO, vorzugsweise mit einer «One Health»-Perspektive9. Demnach gilt es, in den Ländern eine ganzheitliche Herangehensweise zu etablieren und Gesundheit in allen Politikfeldern zu verankern. Das Ziel von HiAP ist eine übergreifende Zusammenarbeit im Sinne einer Gesundheit als gesellschaftliche Gesamtaufgabe.
Mario Desmedt bedauert, dass der aktuelle Erzählstrang rund um die Pflege eher negativ sei, was die Attraktivität des Berufs dämpfen könne. Doch er sagt auch: «Es genügt, sich die Erfolgsgeschichten und Pflegeveranstaltungen auf LinkedIn anzusehen: Sie sind aussergewöhnlich und inspirierend. Es genügt, den Patient:innen zuzuhören und zu erfahren, was sie von den Pflegefachpersonen halten. Es genügt, ihre Leidenschaft zu beobachten. Es genügt, die aktuellen Trends, Chancen und Herausforderungen im Gesundheitssystem zu beobachten. Es ist eine günstige Zeit, um in den Pflegeberuf einzusteigen.»
1 Vgl. «Schweizer Spitäler – So gesund waren die Finanzen 2021», PwC Schweiz, 2021
2 Vgl. «Pflegeinitiative: Neues Gesetz und weitere Massnahmen für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege», Bundesrat, 2023
3 Vgl. PinaL-Studie «Pflege in anderen Ländern – Vom Ausland lernen?», Stiftung München, 2019
4 Vgl. «Pflegeausbildung neu», gemäss einer Revision des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes (GuKG) von 2016
5 Vgl. «Health at a Glance 2021», OECD, 2021
6 Vgl. «NFP 74 Gesundheitsversorgung», Schweizerischer Nationalfonds
7 Vgl. «STRAIN – Work-related stress among health professionals in Switzerland», Berner Fachhochschule
8 Vgl. «Health in All Policies Framework for Country Action», WHO, 2014
9 Vgl. «One Health», Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen
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Philip Sommer
Partner, Leiter Beratung Gesundheitswesen, PwC Switzerland
Tel: +41 58 792 75 28